Wahre Detektivgeschichten

Meine Mutter fand Detektive toll, egal, ob alt, blind oder von der Hüfte abwärts gelähmt –, sie kriegte nie genug von ihnen. Meine ältere Schwester teilte ihr Interesse. Das Anbeten von Detektiven wurde von ihnen gemeinsam praktiziert und sie tauschten Handlungsstränge aus wie andere Mütter und Töchter Rezepte oder Tipps für gepflegtes Aussehen. Die eine Fernsehserie hörte auf, und die andere fing an, wodurch unser Haus mit dem beständigen Getöse von Schusswaffen und quietschenden Reifen erfüllt war. Im Erdgeschoss schöpfte der fettleibige Detektiv am Bug des Lustdampfers des Drogenbarons Atem, während oben in der Küche sein ältlicher Kollege sich in Verfolgung des Serienmörders mit dem Kindergesicht über ein niedriges Mäuerchen schwang.

«Wie macht sich dein Fall?», rief meine Mutter während der Werbepausen.

Lisa formte die Hände zu einem Schalltrichter und schrie: «Pummelchen geht immer noch Hinweisen nach, aber ich wette, es ist der chinesische Typ mit der Augenklappe und dem Pferdeschwanz.»

Ihre Welt war eine Welt der offenkundig Verdächtigen. Sie wollen wissen, wer der Axtmörder war? Probieren Sie’s mit dem emotional gestörten Holzfäller, der beim Geräteschuppen des Opfers herumlungert. Wer hat die Bewährungshelferin entführt? Vielleicht ist es der dreißigjährige Zehntkläßler, der in seinem Turnbeutel ein blutgetränktes Seil verwahrt. Es war kein Wunder, dass diese Fälle so schnell gelöst wurden. Jedes Indiz wurde mit einem Anschwellen der Trompeten kursiv gesetzt, im Verhör knickten die Tatverdächtigen ein wie Zahnstocher und gestanden schneller, als man ein Ei weichkocht. «Sie wollen wissen, wer den Brand im Seniorenheim gelegt hat? Na schön, ICH war’s, sind Sie jetzt zufrieden? Genau, ICH. ICH war’s. I-HICH.»

Es ist leicht, einen Fall zu lösen, wenn keiner der Verdächtigen fähig ist, eine anständige Lüge aufzutischen. Durch das Fernsehen hat das Verbrechen seinen Biss verloren und der Detektiv verkam zum Zeitgeist-Männchen. Es schien, als könne jeder einen Mordfall lösen, solange er ein Telefon, ein paar Stunden Freizeit und eine Hausbar hatte. Meine Mutter hatte alle drei Ingredienzen im Übermaß zur Verfügung. Je mehr Verdächtige sie im Verlauf einer Saison überführte, desto zuversichtlicher wurde sie. Zusammen mit meiner Schwester kämmte sie die Lokalzeitung durch und stellte Spekulationen über jedes gemeldete Verbrechen an.

«Wir wissen, dass das Mädchen mit vorgehaltenem Messer im ersten Stock des Elternhauses festgehalten wurde», sagte Lisa und pochte sich mit einem Bleistift gegen die Stirn. «Demnach war die Person, die sie beraubt hat, höchstwahrscheinlich … nicht … auf einen Rollstuhl angewiesen.»

«Das ist, würde ich sagen, eine Vermutung, mit der man kaum schiefliegen kann», antwortete meine Mutter. «Und wo du gerade dabei bist, können wir auch noch Leute ausschließen, die an eine eiserne Lunge angeschlossen sind. Hör zu, Sherlock, du gehst völlig falsch an die Sache ran. Der Typ ist eingebrochen, hat sie mit dem Messer bedroht und ist mit dreihundert Dollar Bargeld abgehauen, stimmt’s?» «Und mit einem Radiowecker», sagte Lisa. «Mit dreihundert Dollar und einem Radiowecker.»

«Vergiss doch den Radiowecker», sagte meine Mutter. «Wichtig ist, dass er ein Messer benutzt hat. Also gut. Welche Menschen benutzen Messer?»

Lisa meinte, vielleicht ein Koch. «Vielleicht war sie in einem Restaurant, und der Koch hat bemerkt, dass sie viel Geld in der Brieftasche hatte.»

«Richtig», sagte meine Mutter, «denn genau das machen Köche bekanntlich. Sie kriechen in der Gaststube auf dem Fußboden herum und überprüfen den Inhalt von Brieftaschen, während sich das Essen in der Küche selbst kocht. Los jetzt, denken. Wer benutzt ein Messer, um ein Verbrechen zu begehen? In einer Welt voller Schusswaffen: Welcher Mensch benutzt immer noch ein Messer? Gibst du auf? Nur ein einziges kleines zusammengesetztes Wort: Drogenabhängiger. So einfach ist das. Ein professioneller Dieb würde eine Pistole verwenden, aber sogar gebraucht kostet eine Pistole Geld. Drogenabhängige können sich keine Pistolen leisten. Sie brauchen ihr ganzes Geld für Dröhnung und Stoff – die harten Sachen. Diese Giftler haben eine Angewohnheit, die sie zu jeder Minute jeden Tages füttern müssen, und das bedeutet, sie sind immer auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Es war ein Heroinsüchtiger, der dem Mädchen von der Bank nach Hause gefolgt ist, sein Auto um die Ecke abgestellt hat, ins Haus eingebrochen ist und sie mit vorgehaltenem Messer überfallen hat.»

«Wenn er sich keine Pistole leisten kann, was macht er dann mit einem Auto?», fragte Lisa. «Und was ist mit dem Radiowecker?»

«Hör bloß mit diesem Scheiß-Radiowecker auf», sagte meine Mutter. «Und das Auto war natürlich gestohlen. Das hat er letzten Donnerstag diesem Ehepaar in der Pamlico Street gestohlen. Du hast doch den Bericht in der Zeitung gelesen. Den nagelneuen Ford Mustang, weißt du noch? Du dachtest, Zigeuner hätten ihn gestohlen, und ich hab gesagt, in diesem Teil des Landes haben wir nicht mal Zigeuner. Ich hab gesagt, das Auto wurde von einem Fixer für eine Serie von Einbrüchen gestohlen, bevor er es an einen Ausschlachter verkauft. Bingo. Genau so war’s.» Sie drückte ihre Zigarette aus und malte mit der Kippe ein X in den Mulm ihres eingeschwärzten Aschenbechers, womit sie kundzutun pflegte, dass dieser spezielle Fall für sie abgeschlossen war. «Was steht als nächstes auf dem Dienstplan?»

Sachbeschädigung in der Poole Road 318, Einbruch in die Five-Points-Apotheke, Fahrerflucht auf dem Parkplatz von Swain’s Steak House …: Es war immer das Werk eines Drogenabhängigen oder eines ehemaligen Polizisten, eines «Renegaten», eines «Einzelgängers». Wenn man meine Mutter reden hörte, konnte man meinen, die sonnigen, manikürten Straßen der gutbürgerlichen Wohnviertel von Raleigh wimmelten von Heroinsüchtigen, die sich durch das Tuch ihrer abgerissenen Polizeiuniformen hindurch Schüsse setzten. Es berührte mich peinlich, wenn sie Ausdrücke wie «eine Pumpe aufziehen» und «Pusher» verwendete. «Na, ich muss dann mal los», sagte sie zu dem Mann im Lebensmittelladen. «Meine Schwiegermutter ist voll auf Mittagessensentzug.»

«Wie bitte?», fragten dann die Lebensmittelleute und fügten in ähnlich fragendem Tonfall hinzu: «Bis bald?»

Nur im Fernsehen sprachen die Menschen so.

«Ich such uns was Schönes im Fernsehen raus», sagten meine Mutter und meine Schwester. Egal, was man sich gerade ansah, wenn sie einen der Fernseher beanspruchten, gab man auf, wie ein Autofahrer, der rechts ran fährt, wenn er die Sirene eines Krankenwagens hört. Die Detektivserien ertrug ich nicht, aber ich verpasste keine einzige Folge von Auf der Flucht. Das war die Geschichte von Dr. Richard Kimble, einem Mann, der immer wegrannte, fälschlich eines Verbrechens bezichtigt, welches er nicht begangen hatte. Während des Vorspanns erfahren wir, dass «er seinen Namen änderte … und seine Identität». Die Sache mit der Identität wurde durch eine Dose Schuhwichse illustriert, die auf etwas stand, was die abgewetzte Oberfläche einer Motel-Kommode zu sein schien. Das hat mich monatelang überfordert. «Wieso?», fragte ich. «Hätte ihn mit frisch gewienerten Schuhen keiner erkannt? Hat er sich das Gesicht mit Schuhkrem eingefärbt? Ich kapier es nicht.»

«Die Haare, du Doof», sagte Lisa. «Er hat sich damit die Haare gefärbt.» Lisa mochte Auf der Flucht, «weil», wie sie sagte, «die Serie die Augen schont. Da gibt es nicht so viel zu sehen».

So, wie sie es sah, brauchte Dr. Kimble nur zweierlei: einen einarmigen Verdächtigen und die Liebe einer guten Frau. Es wollte ihr nicht in den Kopf, dass es trotz seinem grüblerisch guten Aussehen einfach nicht in der Natur dieses Mannes lag, glücklich zu sein. Im Gegensatz zu ihrem allabendlichen Aufgebot an großtuerischen Schnüfflern hatte dieser Flüchtling sowohl eine Seele als auch ein Gedächtnis und würde noch lange, nachdem der wahre Mörder seiner Frau der Gerechtigkeit zugeführt worden war, ein Gehetzter bleiben. Die meisten Serien wollten gar nicht, dass man sich auf das dunkle innere Wirken des Helden konzentrierte. Wenn die Freundin am Schminktisch abgeknallt wurde, wusste man, in der nächsten Folge gibt es eine neue, ohne dumme Fragen. Dr. Kimble hatte kein schickes Cabrio und keine modische Hausbar. Er war aus dem gleichen Stoff wie ich, dem Stoff, der kratzt. Lisa hätte keinen sensiblen Einzelgänger erkannt, wenn er ihr mit einer Faust voll Gänseblümchen auf den Schoß gekrabbelt wäre, und es verärgerte mich, wenn sie Auf der Flucht «eine Serie nach meinem Geschmack» nannte.

Vor dem Fernseher zu sitzen und bei drittklassigen Detektivserien im Nachhinein Vermutungen anzustellen, war das eine. Das andere war, einen echten Fall zu lösen. Wir waren bereits weit bis in die sommerlichen Wiederholungen vorgedrungen, als unser Haushalt von einer Serie sehr realer Verbrechen erschüttert wurde, die kein Fernseh-Detektiv je knacken zu können hoffen würde. Jemand in unserer Familie hatte sich angewöhnt, sich seinen oder ihren Arsch mit dem Handtuch abzuwischen. Besonders störend war dabei, dass all unsere Hand- und Badetücher sirupfarben waren. Man trocknete sich gerade die Haare ab, und plötzlich bemerkte man einen Geruch an Händen, Kopf und Gesicht, der keine Zweifel zuließ. Wenn das Leben in der Vorstadt schon sonst nichts versprach, so doch, dass man sich von Tag zu Tag hangelte, ohne Scheiße im Haar vorzufinden. Diese plötzliche Wendung stellte unser Selbstverständnis auf eine harte Probe, sodass wir uns fragten, wer wir waren und wo wir, als Volk, versagt hatten. Außer Gewissensprüfungen erforderte dies auch noch jede Menge heißes Wasser, literweise Shampoo, Stahlwolle, profimäßige Schrubberbürsten und blöckeweise schroff riechende, desodorierende Seife. Der oder die Kriminelle schlug in allen drei Badezimmern zu und pausierte nur lange genug, um die übrigen in Sicherheit zu wiegen. Da konnte man zwanzig Minuten lang sorgfältig das Handtuch abschnuppern, um dann doch nur zu entdecken, dass das Arschloch diesmal den Waschlappen benutzt hatte.

«Eins», sagte meine Mutter eines Morgens und blätterte die Sonntagszeitung durch, «ist sicher: Die Person, die das macht, ist ganz schön krank.»

«Und sie isst Mais», fügte Lisa hinzu, die sich gerade die Haare mit einen T-Shirt abtrocknete. Sie war das letzte Opfer gewesen und hatte sich so oft die Haare gewaschen, dass sie jetzt aussahen wie die drahtige, synthetische Mähne einer Trollpuppe.

Jeder hatte Theorien, aber niemand hatte Beweise. Wenn man meine Eltern unberücksichtigt ließ, blieben immer noch sechs Kinder und meine Großmutter, sämtlich mögliche Verdächtige. Mich selbst schloss ich aus, und weil die Handtücher ordentlich gefaltet waren, war auch mein Bruder aus dem Schneider, welcher bis zum heutigen Tag zu einer so komplexen Verrichtung nicht fähig ist. Es musste doch schmerzen, ein raues Frottiertuch zu einem so delikaten Zweck einzusetzen. Ich beobachtete meine Familie, wie sie bei Tisch ihre Plätze einnahm, und wartete, dass jemand aufschrie oder -zuckte, aber nichts geschah.

Meine Mutter und Lisa hatten sich immer für so gerissen und schlau gehalten, aber wenn man sie bedrängte, sie sollten einen Verdächtigen nennen, sagten sie, dieser Fall sei unter ihrer Würde. Falls jemand ermordet oder entführt würde, würden sie angemessen reagieren und die schuldige Partei innerhalb einer Stunde ermitteln. Dieser spezielle Fall jedoch falle unter «groben Unfug» und sei somit ihrer professionellen Zuwendung nicht wert. Wer es auch gewesen sei (und immer noch sei), er oder sie würde auf die Stimme des Gewissens hören und früher oder später gestehen. Bis dahin würde meine Mutter den Wäscheschrank mit weißen Handtüchern auffüllen. Fall abgeschlossen.

Noch im selben Monat durchstöberte jemand die oberste Schublade meines Vaters und stahl einen Kniestrumpf mit einhundertzwei «Liberty»-Silberdollars. Ich kannte die Schubladen meines Vaters so gut wie meine eigenen; jeder kannte sie. So vertrieb man sich die Zeit, wenn man das Haus für sich allein hatte –, man durchwühlte die Schubladen meines Vaters, bevor man sich seinem zweiten Versteck, dem Schuppen, zuwandte. Ich hatte diese Münzen oft gesehen und gezählt. Wir alle hatten sie oft gesehen und gezählt, aber wer würde so weit gehen, sie zu stehlen?

Mein Vater versammelte uns alle im Esszimmer und hörte zu, wie wir nacheinander unsere Täterschaft bestritten. «Dollars gibt es auch in Silber? Das hab ich ja noch gar nicht gewusst. Werden sie von der Regierung gleich im Kniestrumpf ausgegeben, oder war das deine Idee?»

«Okay», sagte mein Vater. «Na gut, na schön, verstehe. Niemand hat meine Münzen genommen. Wahrscheinlich hatten sie es einfach satt, so zusammengepfercht in der blöden Kommode zu wohnen, und da haben sie beschlossen, sie kullern einfach zur Tür hinaus und verjubeln sich selbst für Süßigkeiten und Schundhefte. Genau so ist es passiert, stimmt’s? Eben jetzt, während wir hier sprechen, sind sie bestimmt dort draußen in der großen Welt und amüsieren sich wie Bolle, oder?» Seine Stimme hatte ihre höchste Lage erreicht, und er rieb sich die Hände, als betrachte er ein Tablett mit erlesenen Nachspeisen. «Endlich frei und das ganze Leben noch vor sich! Spürt ihr nicht, wie aufregend das ist? Will man da nicht unwillkürlich mit den Armen wedeln und laut schreien?»

Er senkte die Stimme und stellte eine Reihe von Ultimaten, die ich nicht ganz begriff. Ich musste an diese jubelnden Silberdollars denken, heiser und schwindlig im ersten Rausch der Unabhängigkeit. Ich malte mir aus, wie sie sich in Gruppen aufteilten und nur bei Nacht reisten, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Es könnte sich als schwierig erweisen, über Gras und Blätter zu rollen, also stellte ich sie mir aneinander gekauert in der Einfahrt vor, wo sie beschließen, sich an Straßen und Bürgersteige zu halten. Beim Gedanken daran musste ich lachen, und als ich lachte, sagte mein Vater: «Du findest das komisch? Zum Kichern ulkig? Wie schön, dass es dich so amüsiert. Mal sehen, wie komisch es ist, wenn ich dein Zimmer durchsuche, Spaßvogel.»

Im Fernsehen bedeutete ein Durchsuchungsbefehl, dass die Wohnung verwüstet wird, und in meinem Fall war es nicht anders. Mein Zimmer war der einzige saubere Raum im ganzen Haus. Es war mein Schrein, mein Tempel, und ich sah entsetzt mit an, wie meine Schubladen ausgeleert und meine Schränke brutal in Unordnung gebracht wurden. Als er meinen Schreibtisch durchsuchte, stieß mein Vater auf einen vergoldeten Drehbleistift, den er als sein Eigentum wiedererkannte. Dieser hatte sich einst in derselben Schublade aufgehalten wie seine Münzen, und ich gab zu, dass ich, ja, den Drehbleistift «genommen» hatte, aber nicht «gestohlen». Das war ein großer Unterschied. Man stiehlt die Dinge, die man begehrt, während man die Dinge, die der eigentliche Eigentümer nicht recht zu schätzen weiß, nimmt. Der Drehbleistift hatte mir gesagt, wie sehr man ihn vernachlässige, und ich hatte mich erbötig gemacht, ihn einem guten Verwendungszweck zuzuführen. Nehmen ist Borgen ohne die Formalitäten. Ich hatte ohnehin vorgehabt, ihn zurückzugeben, sobald die Mine alle war …; was sollte die ganze Aufregung? Das war nicht das ganz große Indiz, mit dem ein Fall steht und fällt; da konnte er sich noch so sehr anstrengen. Es gab keine schmetternden Trompeten oder Verfolgungsjagden mit stark überhöhter Geschwindigkeit, nur einen dämlichen Drehbleistift, den ich aus reiner Geltungssucht verwendet hatte. Sobald mein Vater und sein Drehbleistift wiedervereinigt waren, wurde ich zum Hauptverdächtigen, durch einen reinen Indizienprozess überführt. Nichts, was ich vorbrachte, konnte ihn umstimmen.

«Hast du das Geld schon ausgegeben, oder hast du’s im Garten vergraben?», fragte meine Schwester Lisa. Vergraben? Jetzt war ich Dieb und Pirat.

Eines Verbrechens überführt, welches ich nicht begangen hatte, gab es für mich nur eins. Die Schuhkrem wurde im Wäscheschrank aufbewahrt. Ich entschied mich für schwarz und massierte sie mir, bestrebt, meine Identität zu ändern, in die Kopfhaut.

Dr. Kimbles Haar wirkte immer vollkommen natürlich. Es wehte in der Brise, die von entgegenkommenden Lastwagen erzeugt wurde, wenn er einsam an der Straße ins Nirgendwo stand und von einer Stadt Abschied nahm, die es versäumt hatte, seine einzigartigen Begabungen zu würdigen. Mein Haar wirkte unbehandelt ziemlich genauso, als aber die Schuhwichse trocknete, verhärtete es sich zu einer steifen, einheitlichen Masse, die meinen Kopf wie ein Helm bedeckte. Ich ging zu Bett, und als ich aufwachte, waren Laken und Kissen verschmiert und verdorben. Gesicht und Arme sahen aus wie mit Druckstellen übersät, und alles stank streng und militärisch nach Putzleder. Kein Wunder, dass Dr. Kimble ein Einzelgänger war. Glanz und Farbe meiner Haare gefielen mir, aber ich musste es glatt nach hinten kämmen, um eine saubere Stirn zu behalten. Diese Frisur war kugelfest. Man hätte mir mit einem Golfschläger auf den Kopf hauen können und ich hätte nichts gespürt. Ich trug meine verschmutzten Laken in die Wälder und wusste, dass von nun an alles anders sein würde. Ich hatte einen gewissen Punkt überschritten und nun gab es kein Zurück mehr.

Nachdem ich meine Identität abgeändert hatte, bestand der nächste Schritt darin, den wahren Dieb zu finden und meinen Namen reinzuwaschen. Meine Mutter und Lisa sagten gern: «Der Verbrecher kehrt immer an den Ort des Verbrechens zurück.» Zwar war dies eine wohlfeile Weisheit, die sie aus einer ihrer Fernsehserien hatten, aber ein Versuch konnte nicht schaden. Auf den oder die, der oder die sich den Arsch mit Handtüchern abwischte, traf es schon mal zu, andererseits hatte der oder die aber gar keine andere Wahl. In den Badezimmern waren nun mal die Toiletten untergebracht, und selbst wenn er oder sie sich geändert hatte, musste er oder sie immer noch aufs Klo. Außer den Silberdollars beherbergten die Schubladen meines Vaters noch mehrere Taschenuhren, ein Paar spielwürfelförmige Manschettenknöpfe, Krawattennadeln, schicke Feuerzeuge und ein Kartenspiel mit Aktmotiven, bei dem sowohl Herz-König als auch Pik-As fehlten.

In Erwägung also, dass der Dieb guten Grund hatte, dorthin zurückzukehren, wo es noch so viel zu holen gab, startete ich eine Überwachungsaktion. Der Kleiderschrank meines Vaters hatte Türen mit geschrägt waagerechten Holzlamellen, welche freie Sicht auf den gesamten Raum ermöglichten. Ich bezog Posten und musste eine geschlagene Stunde warten, bevor meine Mutter den Raum betrat und rief: «Es ist mir ja so was von wurscht, wie sie das auf dem Olymp machen, aber in diesem Haus wird ein SiebenDollar-Steak nicht in siedendem Wasser gegart!» Intuitiv erfasste ich, dass sie mit meiner Großmutter sprach. Sie knallte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf den Rand eines ungemachten Bettes. Sie starrte ihre nackten Füße an, und dann sagte sie, als erwarte sie von ihnen eine Entschuldigung für etwas, was sie gerade verbockt hatten: «Nun, was haben wir dazu zu sagen?» Sie pulte kurz an einem Zehennagel und durchquerte dann das Zimmer, um eine Flasche mit glänzendem Nagellack von der Kommode zu holen. Es war ein ganz neuer Farbton, Kitt. Anstatt die Nägel zu betonen, bewirkte er, dass sie im sie umgebenden Fleisch verschwanden, wodurch ein Look entstand, der gleichzeitig ausgeflippt und populär war. Ich habe nie verstanden, warum Frauen sich die Zehennägel lackieren, schon gar nicht bei meiner Mutter, deren krustige, missgestaltete Krallgebilde den zersplitterten «Frito»-Kartoffelchips von der Größe eines Goldnuggets ähnelten, die man ganz unten in der Tüte aneinandergeschmiegt findet. Sie stand vor dem Spiegel, schüttelte die Flasche und betrachtete sorgenvoll ihr sprödes, angegrautes Haar, welches zu einer lustlosen Frisur arrangiert war, die sie «Vorsicht! Hier hat der Teufel hingetreten!», nannte. Dann beobachtete ich, wie sie in ihrem Kleiderschrank wühlte und mit einer großen Plastikkiste wieder zum Vorschein kam, die mit Schlössern gesichert war, wie man sie von Koffern kennt. Den Kleiderschrank meines Vaters hatte ich tausendmal untersucht, den meiner Mutter noch nie. «Wenn ich was Wertvolles hätte, würde ich es da zuallerletzt aufbewahren», sagte sie. «Nicht mal die gottverdammten Motten mögen meine Sachen.» Schrank und Kommodenschubladen meines Vaters boten Hinweise auf sein Innenleben. Es machte mir Spaß zu enthüllen, was ich für seine Geheimnisse hielt, fand es aber besser, die Privatsphäre meiner Mutter nicht zu verletzen, nicht so sehr aus Respekt wie aus Furcht. Ich wollte nicht, dass womöglich Handschellen oder lederne Scharfrichterkapuzen dem Konzept in die Quere kamen, dass diese Frau zunächst und vor allen Dingen meine Mutter war.

Sie stellte die Kiste auf die Kommode, öffnete die Schlösser und hob den Deckel, wodurch ein bleicher Kopf aus Styropor sichtbar wurde, der eine sandblonde Perücke trug, deren Haar zu einer Serie kühner Wogen modelliert war. Es war eine gewaltige Haarpracht, so vollkommen, als wäre sie, an einem jener freien Tage, wenn Er Sich eher kreativ als rachsüchtig fühlte, vielleicht von Gott Persönlich gestylt. Nachdem sie sorgfältig die Nadeln entfernt hatte, setzte meine Mutter sich die Perücke auf und studierte sich im Spiegel. Sie nickte hierher und dahin, aber die Locken spotteten allen physikalischen Gesetzen und blieben, wo sie waren. Dämpfe von der Schuhwichse machten mir übel, ich begann zu transpirieren, der tintige Schweiß rann mir die Stirn herab und befleckte mein Hemd.

«Was sagst du dazu, Frolleinchen?», fragte meine Mutter sich selbst. Sie brachte eine Schicht Lippenstift an und hielt das Gesicht nah an den Spiegel, legte den Kopf schief und hob die Augenbrauen in einer Serie von Gesichtsausdrücken, die alles von tief empfundener Besorgnis bis hin zu voll aufgedrehter Rage vermittelten. Dann trat sie vom Spiegel zurück und stellte sich sich vor, als wäre ihr Spiegelbild ein Gast, den sie gerade kennenlernt. Das tat ich auch oft in der Abgeschiedenheit des Badezimmers. «Wer ist der denn?», fragte ich dann und bewunderte mich mit einem neuen Hemd oder Haarschnitt. Meistens endeten diese privaten Sitzungen damit, dass Hose und Unterhose sich um die Fußknöchel gewickelt hatten. Knöpfte meine Mutter sich jetzt etwa die Bluse auf? Hob sie etwa den Rock und erregte sich selbst? An welchem Punkt wollte ich eingreifen und die Sache beenden? Wie konnte ich mit mir selbst weiterleben, wenn ich wusste, wie sie nackt aussah? Bitte, dachte ich, tu’s nicht. Sei nicht wie ich.

«Also los», sagte meine Mutter. «Wie war’s, malen wir mal diese Zehennägel an?» Sie schraubte das Fläschchen auf und setzte sich auf die Bettkante. Ich beobachtete, wie sie die Zehennägel spreizte und sich an die Arbeit machte und immer wieder innehielt, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie beendete den rechten Fuß und hielt ihn zur Begutachtung hoch. «Ein bisschen auf den Nagel, ein bisschen auf den Zeh, ein paar Tropfen auf den Teppich, und alle sind zufrieden.»

Als der linke Fuß fertig war, knallte sie den Nagellack auf die Kommode und errichtete einen Hügel aus Kissen, etwas, was hoch genug war, dass sie sich auf den Rücken legen konnte, ohne ihre Perücke zu verkrumpeln. Es sah unbequem aus, aber sie schien es gewohnt zu sein. Das Zimmer, mit seinem ungemachten Bett und dem mit Zigarettenschachteln vollgemüllten Fußboden, sah aus wie die Stätte eines Verbrechens. Sie hätte eine Nachtklub-Hostess sein können, die erwürgt worden war, weil sie zu viel wusste, oder eine Karrierefrau, die an ihrem Popcorn erstickt war, als sie sich im Fernsehen den Spätfilm ansah. Wie seltsam, sich eine Perücke aufzusetzen, sich in jemand anderen zu verwandeln, und sich dann hinzulegen und ein Nickerchen zu machen. Träumte sie von all den exotischen Dingen, die diese Figur tun mochte, oder war ihre Perücke nur eine wartungsintensive Schlafmütze?

Im Fernsehen werden die zu einer Überwachung nötigen Stunden eintönigen Wartens meist auf einen einzigen Moment der Wahrheit beschränkt. Der Detektiv erscheint gerade rechtzeitig, um die Anweisungen zur Übergabe des Lösegeldes mit anzuhören oder die Juwelendiebe beim Studium der Blaupause des Museumsbauplans zu überraschen. Ich stand eine Stunde lang im Schrank, den Kopf voller Schuhwichse, ein Flüchtling, beobachtete meine Mutter dabei, wie sie verkleidet schlief, und wartete, dass sich etwas enthüllte.

Nachdem sie aufgewacht war, schaffte meine Mutter ihre Perücke zurück in ihr Versteck und verließ das Zimmer. Ich wartete noch ein paar Minuten, schlich nach unten, wusch mir dreimal die Haare, spülte die Badewanne mit Comet aus und zerstörte mein beflecktes Hemd. Als ich an der Haustür die Schritte meines Vaters hörte, jagte ich in mein Schlafzimmer, ohrfeigte mich mehrmals und überprüfte mein Abbild in der dunklen Fensterscheibe. Ich wollte apfelwangig und frisch wirken, wenn er die üblichen Verdächtigen verhaftete, uns vor sich her ins Esszimmer trieb und versuchte, den rätselhaftesten Fall von allen zu lösen: Wer hatte seine Hemden und Sakkos mit Schuhkrem eingeschmiert?

Als es so weit war, nahm ich neben denselben Schurken Platz, die auch die Münzen gestohlen und sich mit Handtüchern abgewischt hatten, und sagte: «Hast du Schuhwichse gesagt? Auf deinen Anziehsachen? Tut mir leid, davon ist mir nichts bekannt.»